Urban Gardening

Ein Thema ist in aller Munde: Die Renaissance des Grüns. Was früher ‚der kleine Garten zum Überleben‘ war und als Lieferant von Einmachgläsern mit Gurke, Marmelade oder Bohne diente, ist heute wieder schick. Vor allem in der Stadt. Das Buzzword: Urban Gardening.

Kein städtebauliches Großprojekt kommt mehr ohne Gärtnerflächen aus. Dabei dachte ich, der Wunsch nach Garten wäre ein Gefühl, das mit zunehmendem Alter steigt. Ganz so wie der innere Saft, der sich nach 70 Jahren Wachstum das Außen sucht. Aber jetzt wird im Hochbeet auf der Tiefgarage gewühlt. Sogar historische Schaugärten und Parks machen Ecken frei, damit der Stadtbürger seinen Spaten ins Erdreich rammen kann! Dass man in dieser künstlichen Welt schnell auf Beton, Kabel oder Folie stößt, wird voll akzeptiert: Säen und ernten, einmachen und verzehren – wunderbar!

Die essbare Stadt

Erntezeit ist die Freude schlechthin, etwaiger Ekel vor Regenwurm, Dreck & Co. wird einfach abgeschüttelt. Unsere Lieferindustrie wird in Frage gestellt, ab jetzt versorgt uns der Papi! Es gibt Handgemachtes vom Hobbygärtner, der gar nicht zimperlich auch den allerletzten Schädling vergiftet. Der Dachgarten ist die höchste Stufe des Glücks: Mitten im Grün, mit genügend Abstand zum Nachbarn, leicht angegrillt in den Feierabend. Freiraum wird zur privaten Produktion benutzt. Die essbare Stadt ist der bürgerliche Umgang mit dem urbanen Raum. Warum wird öffentlicher Raum eigentlich immer zweckbestimmt? Warum muss er immer für irgendetwas nutzbar sein? Warum ist er nicht einfach ‚ohne Bestimmung‘ möglich? Als Betonwüste, als Urwald, als weiße Fläche? Es sollte viel mehr offene Räume geben! Jetzt wird auch noch die Architektur selbst begrünt: Der Knöterich erobert Fassade, Dach und Wohnung, damit man hässliche Häuser nicht mehr sieht. Ganze grüne Straßenzüge können endlich wieder aufatmen. Gebäude wie der Mailänder Bosco Vertikale mit seinen grünen Balkonen werden zum Aushängeschild moderner Architektur. Das Gewächshaus auf dem Dach, Biolabore zum Züchten von Keimlingen. Aus ehemals stattlichen Häusern, die vom Leben ihrer Bewohner erzählen, werden Fabrikationshallen auf ‚grüner Wiese‘. Wie sollen die aufgeräumten bürgerlichen Häuser noch in einen offenen Dialog treten, wenn der grüne Riese ganz unrasiert daherkommt?

Bipolares Wohnen

Der Tipp vom Fachmann: Zwei Häuser besitzen – eins in der Stadt und eines im Grünen. Ganz so, wie unsere südländischen Nachbarn es seit Jahrhunderten machen. Ob in Italien, Spanien oder Frankreich: Beim Haus im Grünen zieht man in die Sommerfrische. Es hat den Blick aufs Meer, einen eigenen kleinen Strand. Im Stadthaus dagegen geht es härter zu. Hier ist alles geordnet, ja etwas unterkühlt. Bipolares Wohnen also. Auch eine Betonwüste kann eine wohltuende Atmosphäre entwickeln. Selbst in der Meditation hat die leere Fläche den höchsten Erholungswert.

Das Büro Superstudio zeichnete in den 70er-Jahren „Picknick auf Öltanks“: Eine Utopie zum Überleben in verschmutzter Umwelt. Es geht darum, das Naturerlebnis nicht nur auf das ästhetisch Herkömmliche zu reduzieren, sondern die veränderte Natur als solches zu erleben. Schauen wir auf die japanische Gartenkunst: Der Garten hat ein klares grafisches Muster mit klassischen Zutaten, die sich über Jahrhunderte hinweg kaum verändert haben. Ein uralter Bonsai, ein Goldfischteich, der durchgekämmte weiße Kies, manchmal die kleine Holzbrücke. Die Japaner nutzen den Garten als Meditationsfläche. In dieser Mikrowelt zeigt sich zugleich unsere zivilisatorische Macht und Ohnmacht über die Natur. Auch unser Naturbild muss wieder fundamentaler werden. Weg vom Nutzgarten, hin zum Staunen.

Professor Christian Heuchel und Van Heuchel mit Birgit Franke I Köln, im September 2021

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