Ich habe mich nicht bewegt

Plötzlich entdecken wir unsere Umgebung neu. Im Lockdown, bei unerlaubten Spaziergängen oder auf unseren Rechnern, von oben im Vogelflug bei Street View. Endlich hat man Zeit, die alltägliche Architektur und die daraus gebaute Stadt genauer zu erleben. Die Schönheit, die Ärmlichkeit und die Rauheit unserer gebauten Realität. Hier zeigt sich Architektur von ihrer wahren und besten Seite. Wie das tägliche Brot wird unsere Umgebung jeden Tag gestaltet. Mal innovativ, mal hässlich oder einfach nur langweilig. Gute Architektur lässt uns heraustreten aus der eigenen Umgebung, lässt uns den Geschmack des Neuen genießen.

Als Beispiel für die neu entdeckten Räume dient ein Schnappschuss, der beim nächtlichen Spaziergang über die Marcel-Proust-Promenade im Kölner Stadtwald entstanden ist. Auf dem Foto sieht man eine alltägliche Straßenleuchte aus den 1950er-Jahren, die Nr. 13 der Kölner Leuchtenfamilie. Die gesamte Szene ist in gelbes Licht getaucht. Am Horizont zwei Lichtpunkte. Wie Glühwürmchen lenken sie das Auge auf den Hintergrund. Links steht ein kleiner Mann. Ein Zwerg? Ein Kobold? Meine Tochter und ich sind fest davon überzeugt: Es ist ein Heinzelmann. Oder doch ein Mülleimer? Ein geheimnisvolles Zeichen am Wegesrand, umgeben von Unschärfe, Verwischtem und Undeutlichem. Der Zufall hat diese Szene zusammengestellt und ausgeleuchtet.

Architektur wirkt durch die Dunkelheit zusammengezogen. Sie erscheint wie eine raue, dunkle Masse, detaillos und geheimnisvoll. Die Szene wird ganz beiläufig aufgeladen mit neuen Möglichkeiten und vagen Ideen. Interessant, wie uns der gebaute Raum grobe Leitplanken vorgibt und welche inneren Bilder auftauchen. Man muss das Scharfstellen des Sehapparates wieder lernen. Zur Übung mit leicht zugekniffenen Augen durch das nächtliche Viertel in der Dämmerung wandeln. Die verlangsamte Wahrnehmung muss für Bewegungen, Lichtpunkte und Farben erst einmal sensibilisiert werden. Aufs Äußerste gespannt scheint die Zeit stillzustehen. Es sind diese Suchbilder, die heute Hoffnung machen, die Interpretationsraum für die Fantasie eröffnen.

Professor Christian Heuchel und Van Heuchel I Köln, im Juni 2021

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