du liebst mich nicht, du liebst mich einfach nicht

Kontrolliertes Handeln ist in der Aktion wichtig: Ob Pilot im Flugzeug, Lokführer, Chirurg oder Frisör: Keiner dieser Berufe sollte in der actio zu viel Lässigkeit erlauben, die mitunter zum Schaden der Kunden, Passagiere, Patienten führen könnte. Doch im antizipierten Handeln, im Denken und in der Reflexion, ja auch in de Erschaffung von Konzepten und Skizzen (der Name sagt es schon), sollte den Gedanken freier Lauf gewährt sein. Ungebremst modelliert, eine Zeichnung zu Papier gebracht oder auch eine mathematische Formel auf der Tafel:
Im Ausformen des Gedankenprozesses hindern Regeln, blockieren die Konzeption. Kreative müssen im Kopf ungebremst kreativ sein, sonst können sie ihre Arbeit nicht verrichten. Dass ein Maler, Architekt oder Regisseur dann beim “Scharf Stellen”, bei der tatsächlichen Ausführung seiner Arbeit ebenso exakt vorgeht, ja, präzise vorgehen muss, wie Vertreter jeder andere Berufsgruppe auch – selbstverständlich. Doch jedes neue Rezept wird erst gekostet, bevor es kreiert und schließlich serviert wird. Jede Strophe eines Liedes, jede Melodie einer Komposition zunächst gezupft oder geklimpert, dann vertont. Jedes Buch startet im Notizblock, nicht im Druck.

Kurz: “Nur um die Ecke gedacht, wird das Werk vollbracht.”

„Du liebst mich nicht, du liebst mich einfach nicht“, denkt der Architekt frei nach der Sängerin Sabrina Setlur, wenn er sein Projekt der Stadtgesellschaft erklärt. Er hat selbstverständlich den sozialen Mehrwert seiner Bauten im Auge und ist überrascht über ein tief misstrauisches Publikum.

Woher kommt dieses Unbehagen, das die gestalterische Fähigkeit des Baumeisters infrage stellt? Wieso fühlen sich die Bürger nicht eingebunden, richtig gehört und ernst genommen? Schlimmer noch: Die Forderungen nach harter Bestrafung für sogenannte ästhetische Entgleisungen durch den Planer werden laut. Harald Martenstein forderte in seiner Kolumne im Zeit-Magazin sogar “die Todesstrafe für den Architekten der Alexa in Berlin, zumindest den Einsatz des Militärs zur Eindämmung der Entgleisung in Geschmacksfragen”.

Früher liefen die großen Deals per Handschlag unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es waren einsame und riskante Entscheidungen, die niemals einen demokratischen Diskurs überlebt hätten. So ließ Karl Wilhelm Markgraf von Baden-Durlach am 17. Juni 1715 den Grundstein für die Idealstadt „Carols Ruhe“ legen, und Georges-Eugène Haussmann veränderte im 19. Jahrhundert das Stadtbild von Paris durch das Einziehen der Grands Boulevards.

Der Eiffelturm wurde trotz gesellschaftlichen Widerstandes 1889 als temporärer Aussichtsturm für die Weltausstellung Paris von Gustave Eiffel gebaut. Und das Olympiastadion in München wurde 1972 durch das Architekturbüro Behnisch & Partner errichtet. Entstanden sind epochale Städte und Bauten. Sie sind aus unserem architektonischen Gedächtnis nicht mehr wegzudenken.

Heute sind die großen Deals passé. Leuchtturmprojekte sind verpönt, gelten als politisch motiviert und am Ende zu teuer. Mindere Komplexität, leicht Verständliches, gut Verdauliches ist konsensfähig geworden. Die Konsensplanung ist Ziel der partizipativen Stadtentwicklung. Zum Glück kann die „europäische Stadt“ diesen Stillstand verkraften. Sie ist „reif“, ein resilientes System mit langer Geschichte, kulturell und ökonomisch geprägt mit hoher Eigenart.
Jegliche Veränderung kann individuell in ihre DNA eingeschrieben werden. Ein perfekter Zustand, um zukünftige Ideen zu inhalieren.

Zur Erinnerung:
„Jeder Mensch ein Künstler“ erklärte Joseph Beuys 1972 anlässlich der Gespräche auf der documenta 5: „Ich sage immer, die ganze Welt tendiert dahin, eine große Akademie zu werden. Das heißt, das geistige Moment bekommt eine immer größere Bedeutung. Auch im Zuge der weiteren Entwicklung der Technologie wird der Mensch mehr und mehr von seinen Arbeitsplatzbedingungen befreit, und er hat also das Freizeitproblem vor sich. Das heißt, in dieser Freizeit könnte er sich mit der Entwicklung seiner Kreativität … befassen.“

Seine Ideen zur sozialen Plastik fordern die Einbindung aller demokratischen Kräfte als Modell für die zukunftsfähige Gestaltung ein. Die mühsam von der Renaissance bis zur Moderne erkämpfte Freiheit der Kunst wird auf alle übertragen und gleichgeschaltet. Ihre Einmaligkeit wird wegdiskutiert, der Elfenbeinturm der Künste eingerissen.

Die Ideengeber der Zukunft brauchen keine Partizipation. Warum soll man die hochkomplexen städtebaulichen und architektonischen Inhalte diskutieren und mit wem? Wer versteht schon die langsame Verschiebung unserer ästhetischen Begriffswelten? Wer versteht schon die Konventionen, in denen wir gefangen sind?

Vordenker brauchen zum Blühen weder Unterstützer noch breite Schultern, auf die sie sich stützen können. Sie sind scheue, einsame Avantgardisten. Sie meiden das Scheinwerferlicht und brauchen für die Ideen der Zukunft von allen respektierte Freiräume: unbeobachtet, unkontrolliert und frei von Einflüssen.

Christian Heuchel und Van Heuchel I Köln, im September 2020

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