Während meines Aufenthaltes als Member of the Board der Universidad Complutense de Madrid habe ich mir traditionellen Flamenco angeschaut. Erwartungsvoll saß ich im Zuschauerraum, den Blick auf die dunkle Holzbühne gerichtet. Auf ihr ein kleines Tischchen, der Rest verhängt mit schwerem, rotem Samt.
Zuerst erscheinen die Gitarristen. Die Spielart der guitarra flamenca ist eine ganz besondere, eher ein Schrubbeln (Van Heuchel imitiert das Geräusch). Die Baseline übernimmt der Jüngste – und alle fangen an zu singen.
Ein kleiner Mann betritt beherzt die Bühne. Wir erheben uns von den Plätzen – Standing Ovations. Der Kleine setzt an; er hat eine noch schlimmere Stimme als die anderen. (Van Heuchel imitiert den Gesang). Angeblich haben sie ein Repertoire an Liedern, aber sie erfinden die Geschichten immer wieder neu. Und dann das Händeklatschen; die ganze Zeit, wie verrückt!
Dann kommen die Tänzer. Ein Mann klackert auf die Bühne, seine Tanzschuhe haben Metall an den Sohlen. Jetzt drehen alle total durch: Die auf der Bühne und das Publikum! Dann kommen die Mädels. Es erscheint eine ältere Dame mit Kastagnetten. Händeklatschen, Schuhgeklapper, Gitarren, Gesang – alles wie aus dem Maschinengewehr. (Van Heuchel imitiert virtuelles Kastagnettengeklapper, Hände über Kopf und hinter dem Rücken). Man ist gefangen im Flamenco! Viel Tanz, viel Bewegung … und alle schwitzen wie wahnsinnig! Das Ganze ist perfekt einstudiert, immer das Gleiche. Die Lieder kann man gar nicht mehr erkennen; sie sind mantraartig. Es ist eine Erscheinung, auf das Wenigste reduziert. Man muss es fühlen!
Zum Ende kriegt man schon heraus, warum der eine besser singt, als der andere. Der eine Sänger spürt einfach mehr, er spürt alles! Ja, am Ende der Liebeserklärungen denkst Du: Der liebt wirklich! Es ist aus dem Gefühl heraus – und das ist in der performativen Kunst oft der Fall.
Wenn ich heute zu einem großen Konzerte ins Stadion gehe und eine super Band besuche, frage ich mich oft: Was ist das für ein einstudierter seelenloser Mist geworden? Nichts Authentisches mehr und Spontaneität fehlt komplett.
Modern Dancer sind ja meist total durchtrainiert. Schauen wir auf Trajal Harrell: Der sieht gar nicht erst wie ein Tänzer aus. Als er anfangs bei Modenschauen mitgelaufen ist, hat man gemerkt, dass er eine Choreografie mit komischen Schuhen abliefert. Er lief hin und her und dann: Standing Ovations! Trajal Harrell stilisiert Alltagsbewegungen zu tanzartigen Bewegungen. Dann habe ich mir weitere Performances von ihm angeschaut, zum Beispiel die mit den Leuten mit Handicap. Da hat ein Mädchen zu Michael Jackson getanzt, mit Eiergriff und allem drum und dran – einfach vollkommen authentisch! Sie hat das wirklich gut interpretiert. Ich will doch dabei gar nicht sehen, wie jemand diese wirklich perfekte Pirouette dreht.
Bei einem anderen Projekt hat Trajal Harrell Frauen – also nicht professionelle Tänzerinnen – auf der Straße angesprochen, ob sie zu Schwanensee tanzen würden. Sie haben eingewilligt, sich in ein Tutu gewickelt und zur Musik getanzt. Proben durften sie nicht. Die Frauen sind einfach über die Bühne gestolpert und haben sich gedreht. Das war total super! Sie versuchten einfach, die Musik zu hören … und zu fühlen, nichts war einstudiert. Und wenn mal die Balletthose rutschte, na und? Dann zieht man sie halt wieder hoch – passiert ja nichts. Das finde ich wesentlich, davon kann man lernen.
Wo ist denn heute das Gespür geblieben? Die Authentizität? Das Echte? Wenn ich das mit Architektur vergleiche, wäre es toll, wenn ich Gebäude planen könnte, die mehr aus dem Gefühl und dem Habitus heraus entstehen. Keine Detail-Versessenheit, keine Konstruktion, kein Architektensprech. Nichts ist super sauber. Wir haben so viele Unmöglichkeiten in der Architektur und im Städtebau; alles ist reglementiert. Alles ist so vorhersehbar und nicht mehr frei. Und das wieder einzubringen, ja, das fände ich interessant. Vor allem fänd ich es wichtig, wenn einem da die Hemmungen genommen werden könnten, bloß nichts mehr verkehrt zu machen.
Professor Christian Heuchel und Van Heuchel mit Birgit Franke I Köln, im Januar 2021