Die Stadt aus der Sicht des Künstlers
Die Kunsthistorikerin Anne Schloen traf den Bildhauer Gereon Krebber in seinem Kölner Atelier und sprach mit ihm über die aktuelle Stadtflucht, die Kunstindustrie, sozialen Wohnungsbau für Reiche und den Blick von oben.
Anne: Seit der Jahrtausendwende leben zum ersten Mal in der Menschheits-geschichte mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Städte gelten als kreative Orte. Dieses Jahr hat der niederländische Architekt Rem Koolhaas im Guggenheim Museum in New York die Ausstellung „Countryside. The Future“ gezeigt. Er behauptet, dass dem Landleben die Zukunft gehöre. Wie denkst Du darüber?
Gereon: Moment mal – wo lebt denn Rem Koolhaas selbst? In der Stadt, in seinem Fall in London. Was er behauptet, trifft anscheinend nicht mal auf ihn selbst zu. Du sagst es selbst: Erstmals in unserer Geschichte sind mehr Menschen weltweit in der Stadt zu Hause als auf dem Land. Zahlenmäßig spricht das nicht für eine Stadtflucht. Beton, Unruhe, Trubel, Enge, viele Menschen: Vielleicht entsteht gerade deshalb ein seelischer Bedarf an „Landlust“. Einigen mag schon der Blick ins gleichnamige Magazin helfen, andere suchen sich vielleicht einen Schrebergarten für mehr Grün im Leben. Manche mögen ihre persönliche Urbanitätsflucht tatsächlich wahrmachen und hinaus aufs Land ziehen, aber nur wenige tun es dauerhaft und ausschließlich.
Anne: Rem Koolhaas vertritt die These, dass es auf dem Land mehr Freiheits- und Experimentierräume gibt, während in Städten die autoritäre Kontrolle immer weiter um sich greift. Wie siehst Du das?
Gereon: Früher hieß es, Stadtluft macht frei. Auch wenn sich Städte vielleicht besser autoritär überwachen lassen, die soziale Kontrolle Deiner Nachbarn im Dorf drängt Dich genauso zu einem Normideal. Das ist auch kaum der Punkt: Die aktuelle Landlust führt kaum wirklich zur Stadtflucht. Die meisten von uns brauchen die Stadt. Wer aus der Stadt hinauszieht, landet typischerweise eher in einem der einfamiliären Speckgürtel. In großstädtischen Vororten steigen die Preise immer noch, während die Dorfkerne auf dem Land verfallen. Es gibt sicher gute Gründe, warum Leute ihre Dörfer verlassen. Die Folgen sind jedenfalls markant. Fahr mal durch Mecklenburg-Vorpommern. Dorf für Dorf ähnelt sich das Bild: Die Ladenlokale in der Hauptstrasse sind zugerammelt, der Putz bröckelt, der Bäcker hat schon vor Jahren geschlossen, nur ausgerechnet Tattoo-Studios scheinen sich tapfer zu behaupten. Einkaufen bitte beim Discounter auf der grünen Wiese, mit Parkplatz vor der Tür. Wie lautet noch mal die Tocotronic-Frage: Aber hier leben?
Anne: Es ist doch schon so, dass bedingt durch Corona viele Großstädter raus aus der Stadt auf das Land gezogen sind. Dort sind die Mieten günstiger, man kann sich besser auf seine Arbeit konzentrieren und findet Ruhe. Was ist mit den Künstlern und Künstlerinnen? Sollten sie auch die Stadt verlassen und auf dem Land arbeiten?
Gereon: Für die meisten Künstler und Künstlerinnen funktioniert das nicht, besonders nicht für die jungen. „Ganz oben“ und „Ganz unten“ kann sich aussuchen, aufs Land zu ziehen. Bruce Naumann kann eine Ranch in Texas haben, Donald Judd in die Wüste nach Marfa ziehen, aber auch noch ein museal großzügiges, mehrstöckiges Lofthouse mitten in New York zu bewohnen. Und Liselotte Soundso kann ihre Ölbilder irgendwo in der Provinz malen, wie es ihr behagt. Alle anderen Künstler und Künstlerinnen sind dazu verurteilt, absurde Mieten zu zahlen und enge Verhältnisse zu ertragen. Alle anderen gehören in die Großstadt. Sie können sich faktisch ihren Wohnort nicht frei aussuchen, auch wenn das unerwartet klingt. Künstler und Künstlerinnen müssen entdeckt werden, und dafür brauchen sie ihren Ort in zentralen Großstädten in der Welt.
Anne: Was genau bieten die Großstädte denn den Künstlern und Künstlerinnen?
Gereon: Sie sind dort eingebunden in eine Kunstindustrie, die sie sonst einfach übergehen wird. Sie leben davon, dass sich um sie ein Unterstützerzirkel bildet, der sie ausbildet, fördert, finanziert, ausstellt, sammelt, bespricht, empfiehlt, mitwirkt, ermuntert, kontert und unterstützt. Sie brauchen ein urbanes Umfeld, das ihrer Tätigkeit Rahmen und Resonanz gibt: Orte wie Museen, Kunstvereine und Galerien, Personen zur Mitarbeit, Mitstreiter, Kritiker, Handwerker, Spezialisten, Expertise – und glückliche Zufälle, bei denen sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Das gibt es nur in der Stadt. Diese Optionalität bieten nur bestimmte Großstädte.
Anne: Aber in den Städten steigen die Mieten für Wohnungen und Ateliers. Aus diesem Grund mussten letztes Jahr hier in Köln einige Ateliers schließen. In New York teilen sich Künstler und Künstlerinnen häufig minikleine Atelierräume, weil die Mieten so hoch sind. Wie sollen die Künstler noch arbeiten können, wenn sie kein richtiges Atelier haben?
Gereon: Tatsächlich schlägt es sich auf die künstlerische Arbeit durch, wenn die städtischen Bedingungen kaum mehr ein raumgreifendes Arbeiten ermöglichen. Schau mal, wie es hier bei mir im Atelier aussieht: Dort hinten steht eine Absauganlage, dahinter ein Brennofen, hier vorn kann ich rummatschen. Das braucht alles seinen Platz. Der Modus Operandi ändert sich auch durch die räumlichen Bedingungen. Wenig Platz heißt aber nicht zwangsläufig Kleinformate. Künstler und Künstlerinnen reagieren erfindungsreich, finden neue Wege und machen kurzum aus der Not eine Tugend. Sie setzen sich an den Schreibtisch und planen ihre Ausstellungen. Post-Studio-Practice und konzeptionelles Arbeiten eignen sich auch als Strategien gegen Raumnot, genauso wie digitale Medien. Wenn Du ein Großkünstler bist, gibst Du die Produktion an spezialisierte Betriebe raus – denn zugleich werden die Ausstellungräume eher größer als kleiner.
Anne: Jetzt würde ich gerne mit Dir über urbane Architektur sprechen. Du hast acht Jahre in London gelebt und damals dort den Bauboom miterlebt. Jetzt wohnst und arbeitest Du seit einigen Jahren in Köln. Was denkst Du über die Bauprojekte, die in den letzten Jahren in Köln realisiert wurden?
Gereon: Es beeindruckt mich, auf welchem Niveau gebaut wird. Aber urbane Architektur krankt häufig daran, dass es Investoren-Architektur ist: Sie muss sich am Ende rechnen. Grundsätzlich ist da nichts gegen einzuwenden. Aber zu gerne wird „optimiert“, weil kaum jemand von denen, die das planen und finanzieren, selbst dort einzieht. Das Sparen wird gern unterschwellig versteckt. An der markanten Gestaltung wird nicht gespart, dass wäre zu offensichtlich. Es geht an den weicheren Kern des Gebäudes. Du siehst es an der Geschoßhöhe, die ist ein sicheres Indiz.
Anne: Kannst Du ein Beispiel nennen?
Gereon: Ein prominentes Beispiel sind die Kranhäuser. Toller Entwurf, ein neues Wahrzeichen, super an den Rhein gesetzt. Die Bügelform ist kühn gelungen. Aber die Fassade bei dem ersten, mit Wohnungen genutzten Kranhaus ist verunglückt. Die Geschoßhöhen wirken hineingepresst, die Balkone unwirtlich und bemüht. Im Vergleich zu den danebenstehenden Bürogebäuden fällt die gesparte Geschoßhöhe leider sofort ins Auge. Dieses vermeintliche Detail degradiert das Gebäude zu einem sozialen Wohnungsbau für Reiche. Anstatt stolz und elegant zu wirken, trägt es den Makel des Borniert-Modernen. Anstatt auf die frühe russische Moderne zu verweisen, reicht der architektonische Horizont nur noch bis nach Chorweiler.
Anne: Was machen denn Deiner Meinung nach urbanes Leben und Urbanität aus?
Gereon: Bleib mal bei den Kranhäusern und dem ehemaligen Hafen in Köln. Da merkst Du schnell, dass dort urbanes Leben fehlt. Wer unten in die Tiefgarage einfährt und mit dem Aufzug nach oben, bleibt fast im Privaten und nutzt nicht wirklich den öffentlichen Raum. Du sitzt in Deinem Reiche-Leute-Silo mit dem komischen Balkon, schwebst über den Dingen und guckst auf den Rhein. Ja, schön, gut gemacht. Ein Kiosk gibt es immerhin, auch einen Bäcker, aber schon zum Einkaufen geht es nach Marienburg mit dem Auto. Ihr habt einfach weggelassen, was wir direkt vor Ort zum Leben brauchen.
Anne: Liegt es also an den fehlenden Geschäften, dass im Kölner Hafen kein urbanes Leben entstanden ist? Restaurants und Cafés sind ja vorhanden.
Gereon: Die entscheidenden, unterschiedlich nutzbaren Räume gibt es dort nicht: Es fehlen die Hinterhöfe! Ihr habt wegoptimiert, was Euch verzichtbar erschien – und genau das macht am Ende eine Menge an urbanem Leben aus. Der Hafen sieht schick aus. Die Häuser sind sicher gut renoviert und schön gestaltet. Aber es fehlt dort vieles von dem, was den Stadtraum an Optionen reizvoll, divers und alltäglich nutzbar macht. Am Wochenende spazieren weniger die Leute, die dort wohnen, sondern alle anderen über die Betonpromenade am Fluss entlang. Das hätte aber auch funktioniert, wenn Du dort nur Schotter hingekippt hättest. Alle wollen ans Wasser, der Rhein zieht uns an – die Architektur ist in diesem Moment Beiwerk. Mein Urteil ist vergleichsweise milde, ich bin interessierter Laie. Frag mal die jungen Architekten, die ihr Büro unten bei uns im Haus haben und sich in ihrem Fach engagieren. Die sind schärfer in ihrer Kritik.
Anne: Kann denn urbane Architektur Leben in die Stadt bringen? Und wenn ja – wie könnte das gelingen?
Gereon: Es lassen sich architektonisch vielleicht einige Bedingungen schaffen, dass urbanes Leben wachsen kann: Baut mehr Hinterhöfe! Lasst Freiräume, auch für uns Künstler und Künstlerinnen! Statt Wohn- und Arbeitsräume zu trennen, lasst sie aneinandergrenzen. Bei allem coolen Glanz unserer Fassaden, macht es nicht zu glatt. Das Funktionale ist eine Farce, lasst die Häuser sprechen. Lasst es „fraktaler“ werden, dass es sich zwar ähnelt, aber variiert. Sorgt für Durchmischung im Öffentlichen, aber zieht klare Grenzen des Privaten. Konsum kann Freude machen, Autos sind doof, aber was willst Du machen? Danke für mehr Grün und große Fenster. Wisst es nicht besser und überlasst es uns, wie wir Eure Bauwerke nutzen. Lasst den Städtebau ruhig kleinteiliger und vielgestaltiger werden. Bitte löst keine sozialen Probleme, aber verschärft sie auch nicht. Ihr braucht nicht groß aufzufallen, gerade Hinstellen ist voll ok. Und denkt an die Geschoßhöhe.
Anne: Die von Dir beschriebenen Kranhäuser im Kölner Hafen sind ja sehr skulptural. Überhaupt hat das skulpturale Formenrepertoire eine wichtige Rolle in der Architektur eingenommen. Was sollten Architekten denn noch von den Bildhauern übernehmen?
Gereon: Den Blick. Schaut euch doch einmal eure Architektur an wie eine Skulptur. Nämlich vom Boden, als Passant und Passantin, als Betrachter und Betrachterin, nicht von der Planung her. Es ist eine komische Erfahrung, wenn sich eine Fassade 100 m lang nicht ändert, wenn man daran vorbeigeht. Besser wäre, wenn alle 30 Meter etwas Neues kommt. Das ermöglicht mir Orientierung.
Anne: Kannst Du noch genauer erklären, wie Du das mit dem Blick meinst? Was stört Dich an dem Blick der Architekten und Architektinnen?
Gereon: Es ist der Blick von oben. Den werfe ich Architekten und Architektinnen insofern vor, weil der schnell zu Planungsfehlschlüssen führt. Der Computer erleichtert das. Du kannst heute alles schön wegdesignen. Die Probleme fallen nicht mehr auf. Im Handwerk ist das anders. Da fragst du immer: Ist der Schnitt gerade? Ist er nicht? Dann feile ich nach. Bei heutigen Entwurfsprogrammen auf dem Computer sieht es sofort toll aus. Wie es schlimm aussehen könnte, sieht man im Programm vorher garantiert nicht. Ein prominentes Beispiel: Nimm mal den Sockelbereich der Elbphilharmonie, dem absoluten Wow-Gebäude Hamburgs, einer städtebaulichen Ikone. Phänomenale Fernwirkung, krasse Fassade, irres High-End-Finish – ein Meisterwerk. Oben hui, unten naja: Mit den Einfahrten in der einheitlich grauen Klinkerfläche unten – sorry, dass sieht in Real etwas zu stumpf und platt aus. Im Entwurf wird das vielleicht keine weitere Rolle gespielt haben. Aber das ist das Erste, was Du als Passant und Passantin landseitig wirklich siehst. Das meine ich, wenn ich von meiner physischen Eigenperspektive spreche.
Anne: Könntest Du es als Bildhauer denn besser machen? Es gibt ja viele Künstler und Künstlerinnen, die Häuser geplant und dann auch gebaut haben.
Gereon: Nein. Ich will kein Architekt sein. Wenn man sich anschaut, was die alles planen und unter welchen Bedingungen! Bautechnik, Brandschutz bis zum Tragwerk, das ist ungeheuer komplex. Im Gegensatz dazu nehme ich einfach Ton, wie schon vor 10.000 Jahren, mache Würstchen, pappe die aufeinander und brenne die. Gut, meine Skulptur kann aufreißen und beim Brand kaputtgehen. Wenn es reißt, mache ich es halt noch mal. Wenn ein Gebäude reißt, hast Du ein ganz anderes Problem… Lieber will ich nicht mit den Architekten und Architektinnen tauschen. Als Bildhauer bin ich kein Baumeister. Ich kann das schlicht nicht, was die leisten: Dieses räumliche Vorstellen, Umsetzen und Gestalten läuft alles im Kopf und auf dem Papier – und auch dieses Managen. Das alles läuft unter scharfen Vorgaben, harten Wettbewerben, haufenweise Plänen und in beeindruckenden Maßstäben. Ich bewundere das, was die können. Da könnte ich noch einiges von lernen.
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Gereon Krebber ist seit 2012 Professor für Bildhauerei im Orientierungsbereich der Kunstakademie Düsseldorf. Von 1994‐2000 studierte er Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf bei Prof. Luise Kimme, Prof. Tony Cragg und Prof. Hubert Kiecol, anschließend bis 2002 am Royal College of Art, London. Nach seiner Lehrtätigkeit an der University of East London im Bereich BA Fine Art (2003‐2008) hatte er von 2010‐2011 eine Gastprofessur an der Hochschule der bildenden Künste in Hamburg inne. Gereon Krebber gewann eine Reihe von Preisen und Stipendien und stellt in Museen, Kunstvereinen und Galerien im In‐ und Ausland aus.
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