Immer wieder sonntags um 11 Uhr flimmerte der „Internationale Frühschoppen“ des WDR bei uns zuhause über den Bildschirm des schwarz/weiß Fernsehers. Mein Großvater, viele Jahre im Bundestag für den Aufbau des Landes tätig, schaute gern diese Sendung und unsere Familie leistete ihm dabei Gesellschaft. Werner Höfer, der Moderator, hatte stets Journalisten und internationale Staatsmänner zu Gast: Schwarze, Rote und natürlich Hans-Dietrich Genscher traten durch die dunkle Tapetentür ein. Alle Nationen saßen hier staatstragend zusammen am runden Tisch. Ihre Gesichter an die Zuschauer gerichtet. Und an mich.
Die Sendung begleitet die demokratische Diskussion der „bleiernen Zeit“ im Deutschland der 70er-Jahre. Die Welt war damals fest im politischen Griff. Alles unter Kontrolle. Und wir schauten zufrieden und gespannt zu. Die Herkunft der Gäste erkannte man klischeehaft an ihrem Habitus: Der Amerikaner ein bisschen Cowboy, der Russe im grauen Anzug, der Franzose argumentierte mit gefärbtem Akzent, der Italiener elegant flapsig. Und dann immer wieder die Moskau-Expertin mit der Mecki-Frisur – als einzige Frau übrigens.
Es wurde Pfeife, Zigarre und Zigarette gequalmt. Früh morgens wurde getrunken, während, teils recht lebhaft, lang diskutiert wurde. Je nach Gesprächsrunde erschien die Bedienung mit Kristallgläsern, gefüllt mit heimischem Riesling und Rotwein aus Frankreich respektive Italien. Eine Stunde lang paffte und trank die Runde zu brennenden Themen wie Kalter Krieg, Abrüstung, Aufrüstung. Oder zum „autofreien Sonntag“, wo kein Auto mehr auf den Straßen zu sehen war. Immer noch eine gute Idee, wie ich finde! Gerade kürzlich wieder als Highlight erlebt, als eine Hauptverkehrsader Kölns wegen Einbruch der Asphaltdecke für ein paar Tage gesperrt war. Ich habe gerne hineingeschaut in diesen Raum aus Worten, Gesten und Geräuschen. Ich konnte den Tabak förmlich durch die Mattscheibe riechen! Was da aus dem Nebel als Orakel aufstieg, habe ich nie verstanden. Vermutlich war es das Ritual: feste Uhrzeit, gleiche Atmosphäre und beruhigendes Geplapper, das mir Respekt einflößte. Und am Ende gefiel mir der Versuch meiner Großfamilie, sich nach der Sendung über die Inhalte mit großer Ernsthaftigkeit zu streiten.
Heutzutage werden Entscheidungen nach wissenschaftlichen, empirischen und rationalen Gesetzmäßigkeiten getroffen. Der Internationale Frühshoppen könnte helfen, Sichtweisen in einer Art Hypnose zu entwickeln. Durch die Betäubung des Verstandes mit Alkohol, Rauchen und Sprechen wird ein Bühnenraum geschaffen, der die rationalen Regeln des Denkens ausschaltet. Nicht mehr die Rhetorik verführt, sondern das Erlebnis der Geburt des Satzes erfreut uns. Wer ist nicht fasziniert von den Gedanken, die sich im Artikulieren und Sprechen zeigen – und dann davon mitgenommen zu werden?
Dazu müssen wir sensibel Räume schaffen, die jene „Ideenfindung“ ermöglichen.
Die Leute sprechen über Dinge, die sie noch nie live gesehen haben. Wer von uns hat die Bauten von Louis Kahn live gesehen? Die Materialien im Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe berührt? Oder in Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille gewohnt? Alle sprechen drüber, wie schrecklich das ist. Ich war dort – ich fand das super! Wer einmal da war, wird das nie wieder vergessen! Man kann es eben nicht beschreiben, nur erleben.
Architektur muss man begegnen, sonst lässt sie sich nicht erfahren.
Christian Heuchel und Van Heuchel mit Birgit Franke I Köln, im September 2020